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WENN (B)ENGEL REISEN

Vom guten Ton in öffentlichen Verkehrsmitteln damals und heute

Vom guten Ton in öffentlichen Verkehrsmitteln damals und heute

„Wenn der homo sapiens zum Verkehrsteilnehmer wird, so verwandelt er sich vom sonst so netten, bescheidenen Bürger in eine neue Kategorie Mensch: den Fahrgast.“ Dieser Stoßseufzer stammt aus einem Benimmratgeber anno 1957. Und man muss heutzutage nicht nur in Streikzeiten mit der Bahn unterwegs sein, um festzustellen, dass sich seitdem nichts daran geändert hat. Christoph Sauer hat für den Gentleman-Blog in alten Knigge-Büchern recherchiert, was Reisende in Öffentlichen Verkehrsmitteln beachten sollten. Vieles hat nichts von seiner Gültigkeit verloren.

Knigge für Reisende

Ob in der Pferdebahn des 19. Jahrhunderts oder im ICE der 3. Generation – wenn Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf Reisen gehen, sind die Probleme nahezu identisch. Es beginnt bereits mit dem Ankommen am Bahnhof: „Reist ein Herr mit einer Dame, so wird er auf der Platzsuche außer der Fahrtrichtung möglichst auch den Wunsch nach einem Fensterplatz zu erfüllen suchen, während sie auf dem Bahnsteig das Gepäck bewacht und geduldig den Ausgang seiner redlichen Bemühungen abwartet. War das Unternehmen von Erfolg gekrönt und hat er die Plätze belegt, so winkt er ihr aus dem Abteilfenster zu und sie weiß, er hat es geschafft.

Alleinreisende Frauen wiederum sollten eine kluge Balance aus gespieltem Desinteresse und selbstbewusstem Auftritt an den Tag legen: „Wenn Damen beim Betreten eines vollbesetzten Wagens mit fragender oder gar deutlich auffordernder Miene umherblicken, wer wohl Platz machen wird, so reizen sie die Männerwelt zum Widerstand und sind dann an deren Hemmungen gegen eine Betätigung im Sinne des guten Tons selbst schuld.

Hat man dann endlich seinen Platz gefunden und der Zug ist angerollt, fragt sich, wie man sich die Reisezeit vertreibt. Besonders gefürchtet ist hier die Spezies des mitlesenden Gegenübers: „Sie nehmen verschiedene Körperstellungen an, um mitlesen zu können, und nassauern sich auf diese Weise durch den Lesestoff anderer. Wenn sie wüssten, welche lächerliche Körperhaltung sie dabei annehmen, würden sie es wahrscheinlich unterlassen. Auch für den Lesenden ist es unangenehm, immer noch ein Augenpaar neben, vor oder über sich zu haben, das wie gebannt an seinen Zeitungsseiten klebt.

Der Lesende wiederum sollte vermeiden, die Zeitung als „eine Art von spanischer Wand vor sich aufzubauen. Wobei sich dieses Problem in unseren Tagen durch die kleinformatigen E-Book-Reader zunehmend von selbst löst.

Essen in der Bahn

Nun macht Reisen – gerade auf längeren Strecken – hungrig. Wer auf die Nutzung des Speisewagenangebots verzichten will, bringt sich sein Essen selbst mit. Doch schon bei der Auswahl der mitgebrachten Speisen lauern Tücken: „Man soll bei der Wahl seines Reiseproviants derartig vorsichtig sein, daß ein diesbezüglicher Odeur nicht die Atmosphäre des Coupés auf unangenehme Weise zu beeinträchtigen imstande ist, wie scharfe Käsegerüche usw.

Auch sollen Eltern hier ganz besonders auf ihren Nachwuchs achtgeben: „Kinder im Abteil sind reizend, wenn sie mit heißen, roten Bäckchen in den Armen der Mutter liegen und schlafen. Aber ehe es so weit ist, kann manches geschehen. Angriffe mit Marmeladenbroten und saftigen Früchten auf die Onkel und Tanten gehen über das erträgliche Maß hinaus.

Flirten auf der Bahnreise?

Ist der Lesestoff endlich ausgegangen und der Hunger gestillt, bleibt einem die Kontaktaufnahme mit seinen Mitreisenden. Und warum nicht auch ein kleiner Flirt? Wobei hier die Sitten selbst in den sonst so freizügigen „goldenen zwanziger Jahren“ doch strenger waren, als man es vielleicht erwartet: „Das lebhafte Anstarren einer jungen Dame seitens eines Herren in der Straßenbahn, Omnibus oder Bahncoupé ist gegen den guten Ton. Gegebenenfalls darf es die betreffende Dame nicht bemerken.

Von speziellen Eroberungstricks wird allerdings abgeraten: „Die Plumpheit ins Quadrat gesteigert wäre es, wenn er beim ‚Nickerchen‘ seinen Kopf auf ihre Schultern sinken lassen würde – sofern sie neben ihm sitzt –, einen festen Schlaf vortäuschend. Allzuleicht könnte es ihm passieren, daß sein Anschlußsuchender Kopf senkrecht fallen gelassen wird und damit seine Annäherungsversuche für die ganze weitere Fahrt ins Wasser fallen würden.

Auch die Schaffner müssen Manieren haben

Nun gibt es selbstverständlich auch Reisende, die tatsächlich nur schlafen wollen. Aber das sollten sie dann besser nicht tun, wie hier beschrieben: „Kaum eingerichtet, suchen sie auch sofort eine möglichst bequeme Lage zu gewinnen, um die Augen schließen und schlafen zu können. Solche Passagiere können durch ihr unaufhörliches Hin- und Herfallen den Mitreisenden überaus lästig werden.

Übrigens wird gelegentlich daran erinnert, dass der gute Umgangston nicht nur für die Reisenden, sondern auch für das Zugpersonal gilt: „Der Schaffner muß besonders artig und zuvorkommend sein; er vertritt ja das Unternehmen, dessen Fahrgast man ist. Manche Schaffner reichen einem den Fahrschein so, daß dieser durch die Faust, die er einem hinstreckt, verdeckt ist; man müße sich erst über die lümmelnde Faust beugen, um das Papier erblicken und ergreifen zu können.

Höflich währt am längsten

Ja, es wäre so einfach: „Kinder machen Erwachsenen Platz, Herren den Damen und Damen den Alten und Gebrechlichen.Die Realität ist eine andere. Aber steht es nicht in der Macht eines jeden Einzelnen, die (Bahnfahr-)Welt im Kleinen ein wenig erträglicher zu gestalten? Dabei könnte der folgende Rat als Richtschnur dienen: „Rücksichtslosen Leuten gegenüber wende, ehe du ihnen mit gleicher Münze antwortest, alle Mittel der Höflichkeit an, die dir zu Gebote stehen. Das Fenster, das deinem energischen Fordern zum Trotz offenblieb, schließt sich bei deinem freundlich verbindlichen Ersuchen. Das Gepäck, das kein Ärger deinerseits von dem Sitz neben dir verdrängen konnte, verschwindet bescheiden unter dem Sitz, sobald du den richtigen Ton der Bitte findest.

Oder wie es Paula von Reznicek 1928 auf die prägnante Formel brachte: „Das Herz ist vor Entgleisungen stets sicher auf den Schienen des Verstandes!

Christoph Sauer liest Heinrich Spoerl: „Straßenbahn“

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Der Autor

Christoph SauerBeitrag von Christoph Sauer, Sänger, Songwriter und Wahl-Berliner mit Faible für die 20er Jahre. Ende 2014 erschien sein „Gentleman-Kalender 2015“. Der Titel seines Bühnenprogramms lautet „Der gute Ton. Überlebenshilfen von Knigge & Co“. Seine Homepage: www.christophsauer.info

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